Vermutlich waren es aber nicht ökonomische Gründe, die den Landjunker Bismarck auf die Idee brachten durch Blut und Eisen ein Reich zu schmieden, sondern irgendwas anderes. Da wir ihn aber nicht auf die Couch legen können, werden wir das nie erfahren.

(Wenn es auf die Fakten ankommt, könnte man auch argumentieren, dass Johann Nikolaus von Dreyse das Deutsche Reich geschmiedet hat. Mit dessen Hinterladergewehr konnten die Preussen schneller ballern. Das war mit ausschlaggebend für die Schlacht bei Königgrätz 1866.)

Die Geschichtswissenschaft hat nun die merkwürdige Angewohnheit, sich mit belanglosen Fakten zu beschäftigen, aber nicht mit den Prozessen, die zu den Fakten führten. Breiten Raum in der Diskussion nimmt z.B. die Emser Depesche ein, also die Veröffentlichung durch Bismarck eines internen Schreibens, dass dann zur Kriegserklärung Frankreichs geführt haben soll. Die Emser Depesche dürfte aber a) ziemlich irrelevant gewesen sein und ist b), selbst wenn sie relevant gewesen wäre, ein simples Faktum, das aber nicht den Prozess erklärt, der zu diesem Faktum führte. (z.B. die imperialen Gelüste eines Teils der regierenden Schicht in Preussen.)

Warum ist das relevant? Geschichte ist Schulfach und alle paar Jahre wird an irgendein geschichtliches Ereignis erinnert. Das ist wohl so, weil man aus der Geschichte was lernen soll, wobei allerdings bei diesen Anlässen lediglich erinnert werden soll, wir haben ja eine Erinnerungskultur, aber keine, was wohl relevanter wäre, Verstehenskultur. Aus historischen Fakten allerdings lässt sich nichts entnehmen, was für die Zukunft wegweisend sein könnte. Geschichtliche Fakten sind kontingent und wiederholen sich nicht. Lernen lässt sich etwas aus den Prozessen, die zu den Fakten führten. Anders formuliert, wir brauchen einen systemischen Ansatz.

Systemisch ist z.B. das Vorgehen der Ökonomie. Wir haben z.B. immer mal wieder einen Crash an den Aktienmärkten, was allerdings völlig belanglos ist. Hinter den verschiedenen Börsencrashs liegen Prozesse, die man verstehen muss. Dann hätte man ein Muster. Eine Erklärung wäre, dass die Aktienkäufe selber teilweise kreditfinanziert waren und eine Rückzahlung nur bei steigenden oder zumindest nicht fallen Börsenkursen möglich war. Als diese Aktienkurse dann aber leicht sanken, verkauften viele Leute ihre Aktien, was dann die Abwärtsspirale in Gang setzte. Die FED hätte, wie das derzeit die EZB tut, durch eine Zinssenkung dagegen halten können, was sie aber, nach Milton Friedman, nicht tat, womit das Unglück seinen Lauf nahm. Hier haben wir ein Muster, wir haben einen Erklärung, wie es zum Resultat des Prozesses, dem Faktum kam. Aus Prozessen, die zu einem Faktum führen, können wir etwas lernen, aus den Fakten selber können wir nichts lernen.

Um es zugespitzt zu formulieren. Alle Jahre fallen ein paar Milliarden Äpfel von irgendwelchen Bäumen. Man kann natürlich in dicken Büchern jeden einzelnen gefallenen Apfel auflisten, allerdings ist der Erkenntniswert gleich Null. Erst wenn ein Newton, so der Legende stimmt, hinter den fallenden Äpfel ein allgemeines Gesetz entdeckt, wird es interessant und lehrreich. Wir können dann schließen, dass dasselbe Gesetz den Mond auf seiner Umlaufbahn hält.

Richtig kritisch wird es, wenn es um ernsthafte Dinge geht, man sich also an Fakten, etwa die Reichskristallnacht (9. November 1938) oder an die Befreiung des KZ Auschwitz (27. Januar 1945), erinnert. Das Wort „erinnern“ verweist schon darauf, dass es nicht um verstehen geht, was vermutlich daran liegt, dass bei dem Versuch, solche Phänomene zu verstehen, sich jeder aus der Deckung wagen müsste und spekulieren müsste. Was genau geht im Hirn eines Kleinbürgers vor, der sich in SA Uniform vor ein Geschäft stellt, dessen Besitzer jüdischen Glaubens ist, bzw. dessen Vorfahren irgendwann von dieser Religion geprägt waren? Vermutlich würde verstehen auch bedeuten, dass die Prozesse, die zu den Fakten führten, auch heute noch wirksam sind. Wir kommen also sehr nah an die Gegenwart: Menschen reagieren auf Anreizsysteme und wenn die Anreize falsch gesetzt sind, dann werden nur wenige wiederstehen, bzw. nur die, die dem Anreizsystem des Regimes etwas entgegensetzen können. Es wäre Aufgabe des Bildungssystems, gegen das blinde Reagieren auf Anreizsysteme zu immunisieren. Zu dem Thema äußert sich Adorno in dem kleinen Büchlein „Erziehung zur Mündigkeit“. Menschen neigen dazu, sich in Spiele einzulassen, die sie nicht verstehen. Ob es hierfür schon reicht, Wehrpflichtige zur Bürgern in Uniform umzudeklarieren, ist fraglich. Die Marktwirtschaft ist ein sehr sinnvolles System, dass es eine objektive Kontrolle ausübt, ohne dass es jemanden braucht der kontrolliert. Es ist aber nicht gerade ein System, in dem man lernt, auf Anreize nicht zu reagieren. Das könnte man diskutieren.

Das wäre auf jeden Fall erhellender, als über die Fakten zu debatieren. Die interessante Frage ist nicht, wann, wie, wieso Bismarck die Emser Depesche verfälschte. Die Frage ist, warum er ein Fan war von Preussens Gloria. Hinter der Emser Depesche verbirgt sich kein Zusammenhang, der verallgemeinert werden könnte, aber den Wunsch, irgendeine Nation zu vergrößern, auch wenn dabei meist nicht das rauskommt, was man sich erhoffte, haben wir öfters. Was diese Bestrebungen antreibt, wäre interessant zu wissen.

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