Der Autor würde dazu tendieren, den Geist als Kraft aufzufassen, also als etwas, das etwas hervorbringt, warum auch immer. Was er hervorbringt, sind zum Beispiel Bildungsinhalte, also irgendwas, das dann fertig vorliegt und das man sich aneignen kann. Der Autor hat keine besondere Sympathie für Sprachspiele, aber Bildung kann man sich aneignen, ist also etwas, was da ist und das man erwerben kann, so man sich strebend bemüht. Den Geist kann man nicht erwerben. Der Geist ist eine Kraft, bzw. ein Sammelsummerium an Spannungsfeldern, die eine Kraft erzeugen. Vielleicht ist der Geist aber auch ein Vakuum, das Inhalte in sich aufsaugt, wie die im Wasser sterilisierte Flasche die Luft, wenn man sie öffnet. Der Geist könnte aber auch so was sein wie ein Ballon mit Überdruck, der platzt, wenn er angestochen wird. Das Vakuum wäre dann das, wohin die geistigen Produkte fließen, der Ballon wäre, das, woher eben jene kommen. Wäre dem nicht so, gäbe es keinen Sender und Empfänger. Dieses Gedicht von Rilke informiert uns zum Beispiel über die Spannungen, die die Kraft hervorbringen. Auf der Metaebene können wir dann auch konstatieren, dass es einen Sender und Empfänger geben muss, mit jeweils komplementären Bestrebungen.

Und du wartest, erwartest das
Eine, das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine, Tiefen, dir zugekehrt.

Sender, in diesem Falle Rilke, und Empfänger, der Leser, erwarten also, dass die Welt bedeutsam ist, es reicht ja schließlich nicht, dass man die Orgel potentiell in sich trägt, es muss auch etwas geben, was sie anstößt und zum Klingen bringt. In diesem Fall sollen selbst noch die Steine erwachen, alles soll eine Bedeutung haben. Auf der Metaebene kann man objektiv feststellen, dass Rilke das Bedürfnis hatte, sich mitzuteilen und die sehr zahlreichen Leser, hatten offensichtlich ein komplementäres Bedürfnis. Menschen haben ein Bedürfnis sich mitzuteilen: Wes Herz voll ist, dem geht der Mund über. Sagt der Volksmund. Wir haben hier ein konstitutives Element, das wir nicht logisch erklären müssen. Das ist einfach so. Manche Sprachen, z.B. das Portugiesische, haben hierfür sogar ein eigenes Verb: desabafar (sein Herz ausschütten).

Zwischen Sender und Empfänger kann es allerdings keinen fundamentalen Unterschied geben. Für beide muss die Erfahrung möglich sein. Das Gedicht ist das Resultat eines Prozesses, einer eventuell unbestimmten Unruhe. Eigentlich geht es weiter und es zieht auch einen Schluss, nämlich den, das der ganze Kreis des Lebens real nicht durchschritten werden kann.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder wiederverlorener Fraun.
Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

Den Gedanken finden wir oft in der Literatur, z.B. bei Mario Vargas Llosa, Historia de un deicidio, Geschichte eines Gottesmordes. Da Gott das Leben so eingerichtet hat, dass der Mensch es in seiner ganzen Fülle nicht erfahren kann, hat der Mensch die Literatur erschaffen. Der Mensch ersetzt also Gottes Werk durch etwas Größeres. Ähnlich im Faust:

So schreitet in dem engen Bretterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus.

Diese Details interessieren uns aber gar nicht im Moment. Was uns interessiert ist das: Als Resultat eines Prozesses ist der Geist ein Zitat, was das Resultat hervorgebracht hat, ist nicht mehr da. Aus Wörtern werden, so sie von der Erfahrung abgeschnitten sind, Worthülsen, die zwar auch noch eine Funktion erfüllen, etwa dann wenn eine Volksgemeinschaft sich vereint unter dem Banner der nationalen Identität, aber dann ziehen die Wörter ihre Kraft eher aus ihrer vollkommenen Inhaltslosigkeit, aus der Abstraktion von dem, was sie hervorgebracht haben. Die Identität des Volksgenossen ist tatsächlich die der Volksgemeinschaft, nämlich schlicht nichts. Worthülsen können auch recht romantisch sein. Bei Sekten kann man oft beobachten, dass die Worthülse zum Atlantis einer begrifflosen Sehnsucht wird. Mit Worthülsen beschreibt Dante in der Divina Commedia auch das Paradies. Da das Diesseits bei Dante ein einziges Jammertal ist und das Paradies hierzu die Gegenwelt, gibt es keine Worte, die das Paradies beschreiben können, denn Wörter sind nun mal, da sie sie mit individueller Erfahrung geladen sind, eine irdische Angelegenheit und folglich gibt es keine Worte für das Paradies, wenn das Diesseits ein Jammertal ist. Im Paradies dreht Dantes Werk im Leerlauf. Man kann lediglich, wie Bloch das tut, Erfahrungen des Glücks in die Zukunft projizieren.

Die These ist empirisch belastbar. Im Parteiprogramm der AFD lesen wir.

Die AfD bekennt sich zur deutschen Leitkultur. Diese fußt auf den Werten des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung. Sie umfasst neben der deutschen Sprache auch unsere Bräuche und Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte.

Was „fußen“ hier genau bedeuten soll, ist unklar. Ist der konkrete Einfluss antiker Philosophen auf Theologen des Mitteltalers gemeint, etwa Aristoteles bei Thomas von Aquin oder Vergil bei Dante, dann bezweifelt der Autor sehr stark, dass irgendein Mitglied der AFD in der Lage wäre, diesen darzustellen. Die Aufklärung steht in einem eher kritischen Verhältnis zum Christentum, wäre eher als Überwindung des Christentums zu deuten. Fraglich ist, ob die deutsche Leitkultur gleichzeitig auf beiden „fußen“ kann, was aber letztlich egal ist, weil der Autor stark bezweifelt, dass Lessing, Voltaire, Diderot, Rousseau etc., also die Autoren, die man der Aufklärung zurechnet, bei den Anhängern der AFD bekannt sind. Humanismus ist kein geschlossenes Weltbild, zwischen Niccolò Machiavelli und Pico della Mirandola liegen Welten. Mit Bräuchen und Traditionen meinen sie wahrscheinlich das Oktoberfest und Schuhplattler. Das begeistert die Japaner, aber sehr wenig Deutsche. Wir haben es mit Worthülsen zu tun, die konkret eigentlich nichts bedeuten, wobei das Beispiel AFD lediglich ein extremes Beispiel ist.

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