Der kanonisierte Geist, der von keiner individuellen Erfahrung und Entwicklung mehr gedeckt ist, ist der leere Geist. Würde bei Mitgliedern und Anhängern der AFD nach Inhalten gefragt, würde sich die These bestätigen. Warum überhaupt ein Bedürfnis nach Worthülsen besteht, ist unklar und die Motive hierfür unterschiedlich. Oft sind Worthülsen konstituierend für eine Gruppe, mit der sie sich von einer anderen Gruppe absetzt, was dann zu einem kompakten Auftreten führt, womit sich höchst konkrete Interessen besser durchsetzen lassen. Was dem einen sein „Ausländer“ ist dem anderen sein Klassenfeind. Der „Bildungsbürger“ identifiziert sich mit einem Kanon, den er zwar formal mehr oder weniger kennt, der ihm aber inhaltlich fremd ist, da er den dahinter stehenden Prozess der Individualisierung nicht durchlaufen hat.

Auch hier, also beim Bildungsbürger, ist der Begriff konstitutiv für eine Gruppe und dient der Abgrenzung, die aus welchen Gründen auch immer gewünscht ist. Worthülsen haben wir auch dann, wenn eine unbestimmte Sehnsucht zur Aufladung eines Begriffes führt, ohne dass dieser Begriff näher bestimmt werden könnte. Das Paradebeispiel dafür ist Osho mit Sprüchen wie „Die Wahrheit ist in Dir; suche nicht woanders nach ihr“. Die Wahrheit ist, dass in einem erst mal schlicht gar nichts ist. Das hat schon Hegel festgestellt: Das reine unmittelbare Sein, ist das Nichts.

Geistige Artefakte entstehen immer im Spannungsfeld zwischen dem Subjekt, das sich zum Objekt irgendwie verhält. Man mag den Jüngern Oshos zugute halten, dass sie das tobende Leben suchen, immerhin drückt der Guru ja eine Sehnsucht danach aus, aber die Wahrscheinlichkeit es da zu finden, wo sie suchen, ist in etwa so groß wie die Wahrscheinlichkeit, in der Wüste Sahara Äpfel zu finden.

Wir haben aber, das ist das, was uns an den Geisteswissenschaften begeistert, wieder das Phänomen, dass wir die Existenz eines Phänomens zwar nachweisen können, aber völlig unklar ist, was das Phänomen eigentlich ist. Was die Worthülse entstehen lässt, ist völlig unklar. Wir können nur konstatieren, dass es sie gibt. Die Worthülse ist ein Wort, das von jedem individuellen Prozess entkleidet ist. Vielleicht sind die AFD Fans sogar wirklich auf der Suche nach irgendwas, auch wenn sich niemandem erschließt, warum auf die deutschen Bräuche, Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte abgestellt wird. Die spanische, französische, amerikanische etc.. Bräuche, Traditionen Geistes- und Kulturgeschichte machen vielleicht genau so viel Spaß. Die Fokussierung auf die deutsche Version macht eigentlich nur Sinn, wenn dem deutschen Gemüt eben diese besonders entspricht und von daher besonders viel Spaß macht, was wiederum die Frage aufwirft, ob das deutsche Gemüt Resultat eines Prozesses ist oder etwas, was den Prozess treibt. Ist es das Resultat eines Prozesses, müsste lediglich der Kanon verändert werden um ein anderes Gemüt zu erhalten.

Empirisch allerdings ist die Sachlage klar. Außerhalb des Kanons haben wir es immer mit globalen Entwicklungen zu tun. Pink Floyd, Queens, Arundhaty Roy, Gabriel García Marquez, Picasso, Gianna Nannini und was die Menschheit sonst noch beschäftigt und begeistert, sind globale Strömungen. Der Autor allerdings findet die AFD als Phänomen irgendwie spannend. Er fragt sich nämlich, wo diese Irren eigentlich herkommen.

Es scheint so, als ob Begriffe, die jeder konkreten Erfahrung entbehren, besonders viel Energie erzeugen. Die Aussage eines braven, aber mit einem schlichten Gemüt ausgestatteten Bundespräsidenten, dass der Islam zu Deutschland gehört, kann einen unglaublichen Sturm und ein gewaltiges Rauschen im Blätterwald und sonstigen Medien entfalten, obwohl die Aussage faktisch nichts bedeutet. Unklar ist, was hier mit „gehören“ überhaupt gemeint sein kann. Ist damit gemeint, dass in Deutschland Menschen dieser Glaubensrichtung leben, dann ist das eine schlichte Tatsache, über die man nicht diskutieren kann. Ist damit gemeint, dass diese Glaubensrichtung den christlichen Kirchen gleichgestellt wird, also z.B. Kirchensteuer bezahlt werden soll, die dann an eine offiziell anerkannte Institution abgeführt werden, dann ist das halbwegs konkret und man kann darüber diskutieren. Ist damit gemeint, dass islamische Feiertage gesetzliche Feiertage werden sollen, dann ist das auch konkret, auch wenn es schwer fällt, sich das praktisch vorzustellen. Das Judentum, der Buddhismus, die Atheisten gehören auch zu Deutschland, wenn man darunter versteht, dass in Deutschland Angehörige dieser Glaubensrichtungen leben. Wir hätten dann praktisch 365 Feiertage im Jahr. Soll das bedeuten, dass der Islam eine Religion ist, die wie das Christentum im Bewusstsein der Menschen verankert ist, dann wird das in Anbetracht massenhafter Kirchenaustritte, leerer Kirchen und Desinteresse an religiösen Fragen schwierig. Hinzukommt, dass Lehrpläne in Deutschland eine kritische Haltung gegenüber dem Christentum verbindlich vorschreiben. Gott in Goethes Faust ist nämlich der Meinung, dass wer glaubt, zu blöd zum Denken ist. Über den Faust sagt er:

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