Es nützt auch nichts, wenn man darauf verweist, dass methodisch immer gleich vorgegangen wird und dies gelernt bzw. gelehrt werden kann, wenn man darauf verweist, dass die Geisteswissenschaften über eine Methodik verfügen, die ein universaler Schlüssel zum Verständnis des Geistes ist. Das ist belanglos schon deshalb, weil es um verstehen überhaupt nicht geht. Die Aussagen können ohne weiteres „verstanden“ werden, dazu braucht es weder Hermeneutik noch sonst irgendwas. Die eigentliche Frage ist, wie man sich dazu verhält. Die Probleme die Kafka hat, lassen sich einfach lösen. Mit einer konsequenten Durchsetzung des Informationsfreiheitsgesetzes gibt es keine obskuren Schlösser mehr. Schiller lehrt uns die große Ankunft, daran kann man arbeiten. Das passiert aber nicht in den universitären Wärmestuben und Zitierfabriken.

Was immer der Geist intendiert, ob sapere aude, erkenne dich selbst, ob er die Welt zum Sprechen bringen will, sursum corda oder was auch immer, verstehen ist nicht das Thema, sondern vermitteln. Das Thema haben die verbeamteten Geistlichen gar nicht auf dem Schirm. In der Blase ist alles gleichermaßen bedeutsam, weil alles bedeutungslos ist und lediglich verstanden werden muss, wobei es nichts gibt, was man verstehen muss, wenn man darunter das Nachvollziehen einer Kausalkette versteht. Unter der Perspektive verstehen, gibt es auch nichts, was irrelevant wird. Egal ob Hildebrandslied oder Ansichten eines Clowns, egal ob El cantar de mio Cid oder Don Quijote, egal ob Divina Commedia oder Cesare Pavese, man muss es nur verstehen. Das eine ist, in der Logik der Zitierwissenschaften, so bedeutend wie das andere. Vermitteln heißt, dass der Geist als anschlussfähig dargestellt wird. Relevanter als die Frage, was uns der Dichter sagen wollte, bzw. wer der Dichter war, ist die Frage, wie und ob sich der Dichter vermitteln lässt. Ist er nicht anschlussfähig, ist es egal, was er gesagt hat. Er mag dann als Gegenstand einer Promotion dienen, die landet aber im Papierkorb bzw. verstaubt im Regal, wenn nicht irgendein armer Promovend auf dem Weg zur Taxifahrerkarriere, eine Tätigkeit, die übrigens schwieriger ist, als Zitate zusammenzuschieben, wie der Autor aus seiner studentischen Taxifahrerkarriere weiß, seine Literaturliste verlängern muss. Der fundamentale Unterschied zwischen Geisteswissenschaften und Ingenieurwissenschaften scheint den Geisteswissenschaftlern nicht klar zu sein. Der Ingenieur muss in der Regel, wenn er nicht gerade vorhat, ein Start Up Unternehmen zu gründen und einen Investor überzeugen muss, gar nichts vermitteln. Er muss niemandem erklären, wie man mittels Wasserelektrolyse Wasserstoff gewinnt. Er soll es machen. Dafür muss er verstehen, wie es funktioniert. In welchem Spannungsverhältnis er zur Realität steht, ist schlicht egal. Er muss auch niemanden davon überzeugen, wozu das gut sein soll, das ist nämlich offensichtlich. Allerhöchstens beschäftigt ihn die Frage, ob es bessere Alternativen gibt. Der Deutschlehrer, der mit einer Klasse den Untertan von Heinrich Mann behandelt, muss diesen vermitteln. Das Problem ist, dass ihn selbst die längste Literaturliste nicht gelehrt hat, wie das in der Praxis konkret funktioniert. Die Frage war nie Gegenstand des Studiums.

Unter der Kategorie verstehen ist die Geopoetik der postmodernen Literatur aus Patagonien, kein Witz, gibt es wirklich, als Dissertation, genauso interessant wie die Frage, was wohlbehütete Mittelstandskids dazu bringt, ihr Taschengeld in die letzte CD von Bushido zu investieren. Letzteres ist aber eine tatsächlich relevante Frage, denn wenn nur noch bitches abgefickt werden von tollen Typen mit Mercedes S-Klasse und dicker Rolex aus Gold, die reihenweise alle möglichen Politiker umbringen, dann scheint die Schule und der Kanon die Kids nicht mehr zu erreichen. Viel spannender als irgendwelcher pseudowissenschaftlicher Quark wie „Musikeinsatz im Französischunterricht, eine historische Darstellung“, auch das gibt es wirklich als Dissertationsprojekt, wären praktische Beispiele. Der Autor dieser Zeilen z.B. lässt tatsächlich bekannte Gedichte aus dem romanischen und angelsächsischen Sprachraum vertonen. Der Einsatz von Musik kann in diesem Zusammenhang sinnvoll sein. Beliebigkeit allerdings kennt keine Relevanz und hat keinen Markt. Da hilft es auch nicht, wenn man das Geschwurbel durch Begriffe wie diskursanalytisch, textlinguistisch oder Textästhetik anreichert. Was es dazu zu sagen gibt, steht ebenfalls, wie sehr vieles, bereits im Faust.

Such Er den redlichen Gewinn!
Sei Er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor!
Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nötig, Worten nachzujagen?
Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!

Die Anzahl an möglichen Themen steigt proportional mit der Beliebigkeit des Kanons. Ist der Kanon endgültig von seinem Ursprung, dem Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt befreit, ist jedes Thema relevant, denn alles ist gleichermaßen irrelevant. Der Kanon ähnelt dann den Artefakten der Kulturindustrie.  Drei Stunden Zitate durch die Gegend schieben ist dann ähnlich bedeutsam, wie drei Stunden Glotze, wobei letzteres wenigstens unterhaltsam ist, bzw. zumindest nicht anstrengt. Aus dem Kanon lassen sich dann eine unendliche Fülle an Themen generieren: Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Heinrich Mann aus diskursanalytischer Sicht; Sinnästhesie im Werke von Clemens Brentano; damönische Romantik im Werk von Edgar Allan Poe; Geworfenheit im Werk von Heidegger und Sartre; das Nichts bei Hegel und bei Schopenhauer; Textproduktion bei Alain Robbe Grillet etc. etc. etc.. Hat der Geist keinen außersprachlichen Bezug mehr, dreht er im Leerlauf. Es gibt dann nichts mehr, was man vermitteln könnte, was intersubjektiv bedeutsam ist, und nichts mehr, was für die Gesellschaft bedeutsam wäre.

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