Geisteswissenschaftler haben die seltene Begabung, die eigentlichen Probleme überhaupt nicht zu begreifen. Sie haben ein intuitives Vorverständnis und merken gar nicht, dass dieses Vorverständnis kritisch ist. Liest man nach, was Geisteswissenschaftler zu dem Thema Stil  zu sagen haben, findet man sowas.

Sprachstil ist die vom Autor gewählte sprachliche Ausdrucksweise eines Textes. Guter Stil ist Zielgruppen adäquat, variert also je nach Adressat und Kontext.

 Das ist zwar richtig, aber das, was erklärt werden soll, wird schon vorausgesetzt. Jeder weiß, dass ein Satz wie „das ist cool“ einen anderen Adressaten und einen anderen Kontext hat als „das ist bemerkenswert“. Wer jetzt nicht gerade Mitglied im Verein deutsche Sprache ist, wird auch konzedieren, dass cool was anderes ist wie toll und folglich englische Wörter nicht immer durch deutsche Wörter ersetzt werden können, wenn ein semantisches gleichwertiges deutsches Wort vorhanden ist. Hip ist auch nicht das gleiche wie modisch, und ob man im Englischen etwas hypen kann oder nicht, ist egal, auch wenn die Mitglieder des Vereins der deutschen Sprache immer wieder darauf hinweisen, dass exportierte Wörter im Importland dieselbe Bedeutung haben müssen, wie im exportierenden Land. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist, dass eine Zielgruppen adäquate Ansprache durch den Stil nur deshalb möglich und gegebenenfalls nötig ist, weil der Stil etwas aussagt, wobei aber unklar ist, wieso das Fall ist. Ergibt sich der Stil aus dem Wortschatz, dürfte die Zuordnung zu einer Gruppe über die Kenntnis des Kontextes, in dem das Wort verwendet wird, erfolgen. Das ist ja öfter mal das Problem bei einer Fremdsprache. Chévere auf Spanisch heißt cool, wird aber nur in Kolumbien verwendet, mono ist irgendwas zwischen toll, drollig, süß, wird aber nur an der Mittelmeerküste in Spanien verwendet, den chompa, also den Pullover, gibt es nur in Bolivien. Im privaten Umfeld  wird einem wohl eher etwas auf den Sender gehen, beschreibt man einer Seminararbeit die Befindlichkeit eines Dichters, kann der Aversionen gegen etwas haben. Es gibt aber auch eine Schicht, wo es dann endgültig unklar wird, wieso noch ein Inhalt transportiert wird, obwohl er zweifelsohne transportiert wird. Bei diesem Gedicht von Theodor Storm haben wir die Situation, dass der semantische Gehalt vollkommen in den Hintergrund tritt. Die Wirkung entsteht durch etwas ganz anderes, wenn auch unklar ist durch was.

Über die Heide hallet mein Schritt;
dumpf aus der Erde wandert es mit.
Herbst ist gekommen,
Frühling ist weit – gab es denn einmal selige Zeit?
Brauende Nebel geistern umher;
schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.
Wär‘ ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei!

In schlichter Prosa ausgedrückt heißt das, dass er über eine Wiese läuft, das Wetter schlecht ist und er im Übrigen ziemlich depressiv gestimmt ist. Also in reiner Prosa hat die Beschreibung keinerlei Wirkung auf den Leser. Die Wirkung, die unstreitig vorhanden ist, denn das Teil ist bekannt und berührt wohl viele Leute, ergibt sich allerdings auch nicht aus dem Text, also den Wörtern, den die sind eigentlich nonsense. Wer über eine Wiese geht, egal ob Heide, Moor oder Acker, dessen Schritte hallen nicht. Denkbar ist höchstens, dass sich ein schmatzendes Geräusch ergibt, wenn der Untergrund matschig ist, das aber auch nicht so regelmäßig, dass man den Eindruck haben kann, dass da was mitwandert. Der Autor joggt regelmäßig, über alle Varianten von Böden. Da hallt nix, da wandert nix dumpf mit. Da hat Theodor Storm ein Phänomen, dass es tatsächlich gibt, also wenn man z.B. mit entsprechenden Schuhen durch eine Halle mit entsprechendem Boden geht, in einen Kontext gesetzt, wo dieses Phänomen nicht auftritt. Wenn der Herbst gekommen ist, dann ist der Frühling weit, das ist naheliegend, denn dazwischen liegt der Winter. In der nächsten Strophe löst sich das dann sprachlich endgültig auf. Brauen im Sinne von wallen, brodeln gibt es zwar, aber diese Verwendung ist so exotisch, dass sie wohl außer Germanisten niemandem bekannt ist. Wallen hat aber schon die Bedeutung von unruhig und wellenförmig sich fortbewegen. Wenn die wallenden Nebel umhergeistern, ist das doppelt gemoppelt. Die Botanik wird im Herbst auch nicht schwarz, sondern eher rötlich, braun oder gelb. Der Himmel ist eigentlich immer leer, im Herbst allerdings ist er oft wolkenverhangen. Wer sich jetzt nicht ganz bockig anstellt, der wird konzedieren müssen, dass das Gedicht eine andere Wirkung hat, als die simple Darstellung des Sachverhaltes in schnöder Prosa. Die Frage ist nur, wieso?

Der Stil ist also sozusagen der tiefste Ausdruck des Mysteriums, das den Geist prinzipiell umhüllt. Er drückt irgendwas aus, bzw. ruft beim Empfänger eine bestimmte Empfindung hervor, was immer man jetzt unter Empfindung versteht, aber es ist unklar, wieso. An der reinen Beschreibung kann es nicht liegen, denn die ist z.B. in diesem Gedicht reichlich wirr. Das ist irgendwie in allen Sprachen so. Im Gegensatz zu dem, was alle Romanisten glauben, erfreut sich z.B. die Divina Commedia in Italien keiner großen Beliebtheit, nach drei Jahren Divina Commedia an der Penne, ein Jahr Inferno, ein Jahr Purgatorio und ein Jahr Paraíso haben die italienischen Schüler dann fertig mit Divina Commedia, aber bestimmte Stellen , immer die gleichen, die sprachgewaltig sind, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Das z.B. kennen die meisten Italiener.

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