Seit den achtziger Jahren, vor allem in der Romanistik, wurden die Geisteswissenschaften poststrukturalistisch. Der Inhalt eines Werkes ergibt sich nicht mehr aus dem Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Die Bedeutung eines geistigen Artefaktes ergibt sich ausschließlich aus dessen Position innerhalb einer Struktur. Ohne die Struktur, hätte nichts eine Bedeutung. Implizit beziehen sich geistige Werke damit immer auf andere geistige Werke. Die Position des Autors ist also weitgehend egal. Wer sich etwas darunter vorstellen will, der kann das so sehen. Ein traditioneller Roman, mit einem auktorialen, allwissenden, vorausschauenden und rückblickendem Erzähler, wie etwa die Buddenbrooks von Thomas Mann, zieht den Leser hinein in die Sichtweise des Autors. Er wird die Gründe, die Thomas Mann für den Niedergang der Familie Buddenbrook anführt, vornehmlich die zunehmende Unlust äußerlichen Anforderungen zu entsprechen, also die Stellung in der Gesellschaft zu wahren und zu vergrößern, geschäftlichen Erfolg zu haben, die Ehre der Familie hochzuhalten und damit auf spontanes Glück, Heirat nach Neigung, Verfolgung künstlerischer / philosophischer Interessen zu verzichten, erst mal akzeptieren, obwohl man auch schlicht sagen könnte, die family hatte einen an der Waffel. Thomas Mann konstruiert also eine Wahrheit. Diese Sicht der Dinge ist aber selber ein literarisches Produkt, speist sich aus anderen Romanen, etwa der Madame Bovary von Flaubert oder Effie Briest von Fontane, die ebenfalls eine in Konventionen erstarrte Gesellschaft beschreiben. Verständlich ist diese Sichtweise aber nur, wenn es auch Gegenmodelle dazu gibt, etwa Lulu von Frank Wedekind. Ob das ein relevantes Problem ist, sei dahingestellt, denn in der Regel gibt es ja eine Tendenz zum Zweitbuch, aber auf jeden Fall bewegt sich der Fokus weg vom Autor. Der Autor beschreibt nur noch einen beliebigen Narrativ, eine beliebige Erzählung, die mit anderen Narrativen gleichberechtigt koexistiert. Der Perspektive des Autors kommt keine absolute Wahrheit mehr zu.

Der Nouveau Roman, also Alain Robbe Grillet und Co, verlegt dann die Struktur ins Innere des Romans. Die Figuren werden nicht mehr konstruiert, sondern dekonstruiert. Das Bild, das sich der Leser von den Ereignissen macht, wird ständig revidiert. Die Ereignisse werden nicht chronologisch erzählt und auch nicht aus einer einheitlichen Perspektive, sondern bruchstückhaft und vor- und zurückgreifend. Wer will, kann darin eine parallele zum Alltag sehen, wo wir die Dinge auch nur bruchstückhaft wahrnehmen und versuchen müssen, aus den Bruchstücken ein kohärentes Bild zu gewinnen, dass aber je nach Informationsstand immer wieder geändert wird. Streiten kann man sich darüber, ob wir es hier überhaupt mit etwas radikal Neuem zu tun haben. Ähnliche Techniken haben wir auch bei Maria Vargas Llosa in La casa verde oder in Conversación en la Catedral oder bei Il fu Mattia Pascal von Luigi Pirandello. Der Ansatz mag interessant sein, überspannt man den Bogen, wird es zunehmend langweilig. In dem Konzept kommt weder der Sender noch der Empfänger vor und da die Realität ohne Sender und Empfänger auch nicht existiert, bzw. diese dann gleichgültig ist, kommt auch keine Realität vor. Die Kernaussage ist, dass es kein Subjekt gibt. Das ist zwar ziemlich unrealistisch, aber dem in diesem Kontext verwendeten Begriff Textproduktion lässt sich entnehmen, dass man das Unrealistische für Realistisch hält, wobei man bei Zitierwissenschaftlern davon ausgehen kann, dass sie das Konzept tatsächlich für realistisch halten. Bei manchen Leuten, die dozierend durch die Universitäten schlurfen, kann man aber auch bezweifeln, dass sie die Kernaussage überhaupt begriffen haben. In der akademischen Blase muss man sich zur Realität nicht verhalten, man kann schlicht so tun, als ob sie nicht existiert. Das Problem ist, dass die Geisteswissenschaftler irgendwann mal die Blase verlassen müssen und dann müssen sie irgendjemand erklären, warum der Geist Spaß macht, interessant ist, was bringt etc.. Einfach so beliebige Romane in sich rein fressen, einer so interessant oder uninteressant wie der andere, Hauptsache das Ding lässt sich poststrukturell interpretieren, funktioniert da nicht mehr. Also ohne Realität, kann man die Geisteswissenschaften auch abschaffen.

Worin das Problem eigentlich besteht, ist schwer zu sagen. Die meisten Leute machen irgendwann in ihrem Leben die Erfahrung, dass eine Artefakt einschlägt. Der bekannte Goldfisch in Wish you where here hat ein ähnliches Problem, wie der Panther bei Rilke.

Es ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt

Die Individuen sind in ihrem Alltag gefangen und können sich nicht frei entfalten. Da es bei Pink Floyd musikalisch unterlegt ist, hat es eine höhere Durchschlagskraft. Der Song wird „intuitiv“ verstanden, obwohl die wenigstens in der Lage wären, rational zu erklären, warum der Song einschlägt. Voraussetzung für das Verständnis, ist ein Gefühl des Mangels, und um Mangel zu empfinden, bedarf es nachmal einer gewissen Intelligenz, bzw. einer Erfahrungstiefe. Wer diesen Mangel nie gespürt hat, kann zur Kultur nur eine extrinsische Beziehung entwickeln, bei der der eigentliche Inhalt des Artefaktes keine Rolle mehr spielt.

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