Aus irgendeinem Grund führen Geisteswissenschaftler immer wieder an, dass sie ein ganz besonderes kreatives Potential haben. Das Argument taucht regelmäßig dann auf, wenn mal wieder Lehrstühle gestrichen und umgewidmet werden sollen. Das ist die einzige Phase, wo man so etwas wie Leidenschaft spürt und die Geisteswissenschaften Thema der öffentlichen Debatte sind. Kreativität, vor allem in Bezug auf soziales Handeln, könnte man definieren, als die Fähigkeit, eine ungewöhnliche Lösung zu finden für ein Problem. Das würde aber voraussetzen, dass man überhaupt nach Lösungen sucht, was ja bei den Geisteswissenschaften gar nicht der Fall ist, die wollen nur betrachten. Kreativ wäre, wenn sie einen ungewöhnlichen Ansatz hätten, ihre Inhalte zu vermitteln. Das wollen sie aber gar nicht. Sie wollen sie lediglich verstehen. Damit stehen sie in einer Gesellschaft, die Probleme lösen muss, auf verlorenem Posten.

Kontemplationswissenschaftlern ist das Happy End suspekt. Das ist kitschig. Tatsächlich erfordert das Happy End mehr Intelligenz, Mut und Engagement als die kontemplative Griesgrämigkeit. Und das Gelingen ist gar nicht so selten. Hoffnung kann, wie schon Bloch feststellte enttäuscht werden, wenn objektiv bewiesen ist, dass die große Ankunft unmöglich ist. Dieser Beweis steht aber noch aus und die verrücktesten Happy Ends der Gebrüder Grimm sind inzwischen von der Realität überholt. Mit sieben Meilen Stiefeln kommen wir nicht in acht Stunden nach New York, ein ordentlicher Kochtopf liefert heute mehr als Grießbrei, auch wenn die ökonomischen Verhältnisse eng sind und die Aschenputtels brauchen keine Prinzen mehr, die können heute studieren und Ärztin, Ingenieurin oder was auch immer werden. Das ist noch Luft nach oben, das ultimative Happy End steht noch aus, aber das sapere aude ist das geringste aller Probleme.

Bei Musik ist das ja bekanntlich anders. Dvořáks 9. Symphonie z.B. ist da ganz großes Kino. Das ist großes Gelingen, wenn das Thema einsetzt und was dann folgt, ist der Durchmarsch, der alle Hindernisse überwindet. Also in der Musik ist ab und an mal auch der offene Horizont angesagt, wo noch Hoffnung ist. Den verbeamteten Zitierwissenschaftlern könnte man zu Gute halten, dass sich die Griesgrämigkeit aus der persönlichen Erfahrung des Scheiterns speist, aber die Jungs und Mädels sind gar nicht gescheitert, sie haben es gar nicht erst versucht.

Die Kontemplationswissenschaften sind ein Sehnsuchtsort. Warum dem so ist, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich fühlt sich auch der harmlose und schlichte Jurist, der beim BMBF als verbeamteter Schreiberling tätig ist, emporgehoben und getragen, wenn er der geistlosen Plebs den Zugang zu den heiligen Hallen weist. Beim BMBF lesen wir.

Die Geisteswissenschaften, die in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen etwas zu sagen haben, sichern mit ihrer Arbeit die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, die ein Zusammenleben orientiert an gemeinsamen Werten erst möglich machen. Sie leisten einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis, sie gewährleisten die Grundlagen der Verständigung und Übersetzung zwischen Kulturen ebenso wie die Verständigung über gemeinsame Werte und Orientierungspunkte in den Teilbereichen der Gesellschaft. In der Wissenschaft selbst sind die Geisteswissenschaften gefordert, angesichts hochgradig differenzierter Wissensbereiche Zusammenhang herzustellen und zur ganzheitlichen Integration von Wissen beizutragen. Sie sind damit ein notwendiges Element in der Entwicklung zur Wissensgesellschaft.Darüber hinaus tragen die Geisteswissenschaften wesentlich zur Internationalisierung von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft bei und sind mit ihrem spezifischen Fachwissen bei diesem Prozess unerlässlich.

Zusammengefasst: Die Geisteswissenschaften sind zuständig für das Wahre, Schöne und Gute und damit ist der verbeamtete Schreiberling sozusagen der Weihepriester, der dies verkündet, was sich günstig auf dessen Selbstbewusstsein auswirkt. Im Detail ist das zwar alles kaum empirisch belastbar, aber das ist weitgehend egal. Im besoffenen Zustand halten sich die meisten Leute für Genies. Zu den gesellschaftlichen Zusammenhängen hat schlicht jeder was zu sagen, die Frage ist nur, ob der Beitrag auch sinnvoll ist. Welche kulturellen Grundlagen, welche Werte möglich machen, ist mindestens so unklar wie die Frage, inwiefern diese durch die Kontemplationswissenschaften gesichert werden. Der Schreiberling wäre auch nicht in der Lage an einem konkreten Beispiel zu erläutern, inwiefern die Geisteswissenschaften zu einer Verständigung über Werte und Orientierungspunkte beitragen, auch wenn wir ihm zugutehalten, dass Kulturen im Plural steht. Vor 1945 waren die Geisteswissenschaften vor allem für die deutschen Werte und die deutsche Kultur zuständig. Der Geist der Geisteswissenschaften ist ein ziemlicher flexibler Zeitgeist, der aber weniger durch Inhalt bestimmt ist, also durch eine unbestimmte Energie. Im besoffenen Zustand reden die Leute viel, wenn auch nicht viel Sinnvolles. Wir haben im besoffenen Zustand durchaus eine Bewusstseinserweiterung, besoffen sind die Leute zu jeder heldenhaften Tat fähig, allerdings fehlt das Moment der Erfahrung, das den Wörtern auch einen Sinn gibt. Ist der Geist leer und damit beliebig, sind es die Zeitläufe, die den Geist prägen und nicht der Geist die Zeitläufe. Das spezifische Fachwissen der Geisteswissenschaften ist dann vielleicht ein Verstärker der Zeitläufe, aber nichts, was diese inhaltlich bereichert. Mit Begriffen ist das wie mit dem  Stahl, sie werden im Feuer geschmiedet. Wenn nach dem Feuer nichts mehr übrigbleibt, dann war es Stroh. Ob Goebbels vor einem tobenden Saal von der deutschen Kunst raunt oder irgendein verbeamteter Schreiberling mit Jurastudium von den kulturellen Grundlagen schwadroniert, macht keinen großen Unterschied. In beiden Fällen hat der Verstand den Löffel abgegeben.

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