Der Geist ist ein kaum fassbares Ding, man weiß nicht wo er herkommt, man weiß nicht, was er bedeutet, wenn er sich in konkreten geistigen Artefakten manifestiert und man weiß auch nicht, was er eigentlich intendiert. So richtig logisch erklären lässt sich nicht mal, wieso überhaupt ein Bedarf an Geist besteht. Wir wissen nur, dass er begeistert, aber warum eigentlich? Also die Ausgangslage ist, was das verstehen angeht, verstehen im Sinne eines rational nachvollziehbaren Argumentationsmusters gestützt auf Logik oder empirischen Daten, denkbar schlecht. Eigentlich ist es noch schlimmer: Würde man ihn verstehen, bräuchten wir ihn nicht. Wir könnten dann die Geisteswissenschaften in die Psychologie, Neurophysiologie, Psychiatrie, Biologie, Endokrinologie, Computerlinguistik etc. integrieren. Mit ihrem Beharren auf verstehen sind die Geisteswissenschaften dabei, sich selber abzuschaffen.
Die Geisteswissenschaften können aber einen Beitrag dazu leisten, die Dinge einzuordnen. In diesem Sinne könnten die Geisteswissenschaften sogar einen Beitrag zur Orientierung und Wertevermittlung leisten. Hilfreich wäre hierbei, nur noch Wörter zu verwenden, die durch Erfahrung gedeckt sind und Wörter zu vermeiden, die innerhalb einer Gruppe lediglich Projektionsfläche sind, ohne dass sie konkret etwas bedeuten. Wörter, die lediglich eine Gruppenzugehörigkeit attestieren und die lediglich deshalb verwendet werden können, weil sie von der Gruppe akzeptiert werden, kann man aussortieren. Wenn Heidegger anlässlich seiner Ernennung zum Rektor der Freiburger Universität im Jahre 1933 das Publikum fragt, ob es hinsichtlich „des geistigen Auftrages der das deutsche Volk in das Gepräge seiner Geschichte zwingt“ ausreichend informiert sei, so ist die Antwort völlig klar. Es hatte davon keine Ahnung, weil man völligen Schwachsinn schlicht nicht verstehen kann. Da aber Goebbels hier schon vorgearbeitet hatte, wusste jeder, dass die Universitäten jetzt gleichgeschaltet waren. Es sei konzediert, dass die Ansichten eines griesgrämigen Greises nicht interessant sind, aber wenn sich täglich eine Flut an Textbrei über die Gesellschaft ergießt, dann kann man sich schon mal die Frage stellen, wie hoch der Anteil der Bevölkerung ist, der schlicht nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.
Einen Beitrag zur Orientierung und Wertevermittlung können die Geisteswissenschaften aber nur dann bieten, wenn die Akteure selber Werte haben, denn nur dann ist eine Entscheidung über Relevanz und Irrelevanz möglich. Wer ein paar Jahre lang über „kulturelle und kognitive Faktoren des kontaktinduzierten Sprachwandels in Asturien“ philosophiert, ein reales Beispiel, der wollte offensichtlich lediglich seinen Namen verlängern, das Thema war ihm offensichtlich egal. Genauso gut hätte er auch über die kulturellen und kognitiven Faktoren des Sprachwandels in Rio Grande do Sul (Spanisch <=> Portugiesisch), Grenzgebiet Schwäbisch <=> Bayrisch (Allgäu), Alemanisch <=> Schwäbisch (Südschwarzwald), Hindi <=> Urdu (Indien), Dari <=> Paschto (Afghanistan), Tigri <=> Amharisch (Äthiopien), Amharisch <=> Oromo (Äthiopien), Spanisch <=> Quetchua (Bolivien), Arabisch <=> Persisch (Südiran), Kurdisch <=> Persisch (Norwestiran) etc. etc. etc. promovieren können. Der Ansatz reicht locker für Hunderttausend Promotionen. Zu demselben Ergebnis wie das pseudowissenschaftliche Geblubbere kommt aber jeder, der über das Spannungsfeld zwischen dominanter Sprache, in diesem Falle Spanisch, und lokaler Sprache, in diesem Falle asturiano, nachdenkt. Ohne Ziel ist alles gleichermaßen schön bzw. gleichermaßen egal, aber auf jeden Fall langweilig.
Des Weiteren können die Geisteswissenschaften auch nur dann einen Beitrag zur Orientierung und Wertevermittlung geben, dieses Ziel wird ja immer wieder genannt, wenn es sich um ein relevantes Problem handelt. Bezüglich der kulturellen und kognitiven Faktoren des kontaktinduzierten
Sprachwandels in Asturien können wir auf Orientierung und Wertevermittlung verzichten, bzgl. dieser Frage können wir auch völlig desorientiert sein, das macht gar nichts.
Wenn die Geisteswissenschaften der Beliebigkeit der Unterhaltungsindustrie nur eine Beliebigkeit entgegensetzen können, die nicht mal unterhaltsam ist, dann braucht man sie nicht. Orientierung und Wertevermittlung ist nur dann relevant, wenn es um gesellschaftlich relevante Fragen geht, also um Fragen, die die Menschheit auch außerhalb der Blase beschäftigen und hier steckt das Problem. Geisteswissenschaftler haben in den allerseltensten Fällen Lebens- und Berufserfahrung außerhalb der Blase. Das führt dazu, dass sie die Beliebigkeit der Fragestellungen in der Blase für selbstverständlich halten. Das dicke Ende kommt dann, wenn sie die Blase verlassen müssen, was der Regelfall ist, denn Stellen an der Uni sind rar. Gehen sie an Schulen, sind sie noch in einer Welt, wo der Kanon noch Gültigkeit hat, wenn er auch von den Schülern radikal in Frage gestellt wird. Die Frage nach den antiken Quellen und Vorbilder von Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, eine weitere Dissertation, ist für Schüler keine relevante Fragestellung. Eine relevante Frage wäre, ob der Bahnwärter Thiel anschlussfähig ist oder ob man ihn nicht besser beerdigt.