Dass es im schulischen Bereich niemandem auffällt, dass die Vermittlung der Trigonometrie und die Vermittlung von z.B. Goethes Faust ganz andere Anforderungen stellt, liegt daran, dass in beiden Fällen ein Erwartungshorizont gesetzt wird, an dem die Leistung scheinbar objektiv gemessen werden kann. Tatsächlich haben wir es aber mit zwei völligen unterschiedlichen Dingen zu tun. In einem Fall können wir von dem Erfahrungshorizont, der sich aus der subjektiven Befindlichkeit ergibt, abstrahieren. Diese spielt höchstens bei der Konzentrationsfähigkeit und der Motivation eine Rolle, denkbar wäre noch die Fähigkeit der Eltern, Nachhilfestunden zu bezahlen. Beim Geist haben wir eine sehr viel individuellere Situation. Bei Goethes Faust, um mal ein extremes Beispiel zu wählen, haben wir einen sehr weit gespannten Bogen an möglichen Bezügen, wobei aber das, was bei vielen Deutschlehrern im Zentrum steht, die Gretchentragödie, mit Sicherheit keinen Bezug zu gar nichts hat. Voreheliche Sexualbeziehungen sind heutzutage kein Problem mehr, uneheliche Kinder sind ehelichen Kindern rechtlich gleichgestellt, an unterschiedlichen Bewertungen religiöser Bekenntnisse wird nur selten eine Beziehung scheitern, aber dass Ehen aus allen möglichen Gründen scheitern, ist völlig normal. Also das ist eine Problematik, die zwar Deutschlehrer und die Verlage, die Interpretationshilfen produzieren, beschäftigt, aber ansonsten beschäftigt das niemanden mehr. Was aus dem Mammutwerk für den einzelnen jetzt Bedeutung hat und was der Erwartungshorizont sein soll, ist schlicht nicht bestimmbar. Wenn der Film Fack ju Goethe ein Bombenerfolg war, dann liegt das wohl auch daran, abgesehen davon, dass er witzig und schauspielerisch brilliant ist, dass er eine von vielen gemachte Erfahrung auf den Punkt bringt. So etwas sollte die Geisteswissenschaften beschäftigen, tut es aber nicht.