Allerdings steckt hier jenseits des beschränkten Horizontes der Verkünder dieser tiefsinnigen Einsichten tatsächlich ein ernsthaftes Problem. Man kann das Verhalten von Menschen systemisch betrachten, davon ausgehen, dass das menschliche Verhalten durch die Anreize bestimmt wird, die das System liefert. Das tut die Volkswirtschaftslehre. Man kann aber auch versuchen, das Verhalten der Menschen aus ihrer sozialen, genetischen, individuellen Geschichte etc. heraus zu erklären. Das macht die Psychologie. Das klingt erstmal harmlos, aber man braucht jetzt nicht viel Phantasie, um einzusehen, dass das zu einem völlig anderen Erklärungsansatz führt, wenn man z.B. ein System wie den Nationalsozialismus erklären will und zu völlig anderen Ansätzen, wenn es darum geht, solche oder ähnliche Ideologien zu verhindern. (Im Zweifelsfall arbeitet man eben an beiden Fronten. Systemisch, indem man z.B. Strukturen schafft, die sich gegenseitig kontrollieren und auf „geistiger“ Ebene, indem man z.B. alles tut, um zu verhindern, dass man ein Volk von frustrierten, visionslosen Kleinbürgern bekommt.)

Der Begriff Wahrheit oder Richtigkeit macht in den Geisteswissenschaften keinen Sinn. Bei den Geisteswissenschaften geht es um Authentizität, die letztlich nur über intersubjektive Nachvollziehbarkeit „bewiesen“ werden kann. Sieht der Leser beim Lesen dieser Zeilen eine Möwe, die in der Abenddämmerung am Strand vorbei zieht, dann hat der Vers einen Wahrheitsgehalt insofern, als das viele Leute sehen.

die Möwe, traumesschwer, streicht über das trübe Meer

Um es Mal konkreter zu beschreiben. Von der Sachaussage her entspricht der Vers dieser Beschreibung: Ein Möwe fliegt den Strand entlang, wobei ihr Gehirn unbewusst Gedanken nachhängt. Aufgrund der dunklen Lichtverhältnisse ist das Meer schwarz. Sowohl der Vers wie auch die Beschreibung schildern die gleiche Situation. Die Mehrheit der Deutsch Muttersprachler, wenn auch nicht alle, also es gibt da schon Extremfälle, würden dennoch sagen, dass die Aussage nicht dieselbe ist. Man könnte auch sagen, dass bei dem Vers der Sachverhalt an sich in den Hintergrund tritt. Wir wissen dann zwar immer noch nicht, durch was genau der Vers die Worte überschreitet, aber offensichtlich tut er das.

Man kann es auch noch deutlicher sagen. Nehmen wir dieses Bild von Kandinksy.

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