Es gibt eine unendliche Fülle an Texten, die sich mit der Methodik der Geisteswissenschaften im Vergleich zu der Methodik der Naturwissenschaften befassen, allerdings interessiert das Thema schlicht niemanden. Im übrigen spielt es nicht mal in der universitären Blase eine Rolle, wenn Bachelor, Master oder Doktorarbeiten geschrieben werden. Die entscheidende Frage ist, was sind eigentlich die ZIELE. Was auch immer das Ziel sein mag, was immer er ist, wo immer er herkommt, wie immer er auch entsteht, was immer er intendiert, sapere aude, erkennen dich selbst, bring die Welt zum Sprechen, rücke Probleme in den Fokus, etc.., relevant ist er nur, so er ein Publikum hat. Das ist für die Absolventen eine ganz entscheidende Frage, selbst wenn sie nur Lehrer werden wollen. Sie werden nicht vor einer Klasse stehen, die den Kanon als gegeben akzeptiert, sondern vor einer Klasse, die man irgendwie abholen muss. Genau das, also eigentlich das zentrale Thema, ist aber nicht Gegenstand des Studiums.

Es gibt noch einen Aspekt, wo sich die universitäre Volkswirtschaftslehre und die Geisteswissenschaften ähneln. Der Kanon kann nicht eindeutig irrelevant werden, weil die Aussagen größtenteils nicht falsifizierbar formuliert sind. Eliminiert wurde in der Volkswirtschaft vor allem das, was einer bestimmten Methodik, der mathematischen Modellierung, nicht zugänglich ist, also z.B. Joseph Schumpeter, der inhaltlich bedeutsamer ist, er hat erkannt, dass Geld eben kein bloßer Schleier ist, als David Ricardo, der zwar für das Verständnis der Wirtschaft irrelevant ist, dessen Thesen sich aber teilweise mathematisch modellieren lassen. Was sich mathematisch modellieren lässt, verblieb im Kanon, auch wenn es praktisch bedeutungslos ist und keinerlei Erklärungskraft hat. In Lehrbüchern spuken also bis auf den heutigen Tag zweihundert Jahre alte Thesen.
In den Naturwissenschaften, z.B. in der Molekularbiologie, ist ein Paper in der Regel nach zwei Jahren total veraltet und nicht mehr zitierfähig, da die Richtigkeit einer These im Versuch bestätigt werden muss. Gelingt das nicht, verschwindet sie umgehend. Weiter ist der Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften derartig massiv, dass nach zwei Jahren jede These schon wieder verfeinert wurde, bzw. zur Grundlage neuer Forschungsansätze wurde, so dass sich für die Ursprungsthese keiner mehr interessiert.

Geisteswissenschaftler schaffen es auch noch die nächsten zweihundert Jahre Doktorarbeiten über die Ens des Paracelsus zu schreiben, dem Arzt im klinischen Alltag hilft das jetzt allerdings nichts. Würde sich eine medizinische Fakultät damit beschäftigen, würde das sanktioniert. Romanisten werden ad calendas graecas das organon didaskaleion in den Einführungsveranstaltungen zur Linguistik predigen, was wiederum bei Computerlinguisten, die sich z.B. mit maschineller Übersetzung beschäftigen, nur ein müdes Lächeln hervorrufen wird.

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