Wenn man der Bildung, als Geist, der sich irgendwie in konkreten geistigen Artefakten, die man sich aneignen kann, manifestiert, einen Wert zuspricht, dann müssten sich die Bildungsinhalte auch irgendwie bzgl. der Relevanz und Bedeutung klassifizieren lassen. Vermutlich lässt sich hier keine Einigung erzielen. Jedes Land hat seinen eigenen Bildungskanon, es gibt einen russischen, japanischen, italienischen, französischen, persischen etc. Kanon, der von der Bildungspolitik des jeweiligen Landes gestützt wird, wobei allerdings jeder Kanon von globalen Strömungen überlagert wird, der Bildungskanon der jeweiligen Länder an Bedeutung verliert. Über Inhalte lässt sich die Bildung also gar nicht definieren. Wären die Inhalte entscheidend, wären den relevanteren, höherwertigen Bildungsinhalten der Vorzug zu geben. Also Konfuzius vor Goethe oder umgekehrt. Entgegen aller Behauptungen, dass das Ziel der Bildung die Selbstfindung ist, trifft also genau das Gegenteil zu. Soweit der Kanon staatlich oder gesellschaftlich fixiert ist, soll er eher Identität stiften und weniger einen Individualisierungsprozess in Gang setzen. Macht sich jeder auf seinen eigenen Weg, dann werden die Schnittmengen vermutlich kleiner. Über diese Tatsache kann man reflektieren. Der erstarkten Rechten aller Länder könnte man mal klar machen, dass eine nationale Identität Produkt des Kanons ist, aber nichts, was ein Kontinuum geschichtlicher Prozesse ist.

Will man Bildung irgendwie definieren, dann wäre es wohl Erfahrungsfähigkeit. Eine Sehnsucht nach Erfahrung besteht, fraglich ist nur, ob sie gestillt wird. Mangels Alternativen gibt es einen Milliardenpublikum für Steinhaufen aller Art, von den Pyramiden in Ägypten, über Machu Pichu und die Tempelanlagen von Angkor, bis zur chinesischen Mauer und dem Brandenburger Tor. Als Hintergrund für ein Selfie ist der eine Steinhaufen so schick wie der andere. Wer es nicht mal mehr bis zum Reiseführer schafft, der kann sich einen Guide im Internet mieten. Was die Kanonisierung betrifft, ist die Tourismusbranche wesentlich erfolgreicher, als die akademischen Geisteswissenschaften. Diese brauchen Geld, um den Kanon aufrechtzuerhalten, die Tourismusbranche verdient damit Geld. Zwar weiß niemand, was an dem Lächeln der Mona Lisa geheimnisvoll sein soll, aber der Louvre weist schon am Eingang den Weg. Wirklich spannend ist nur Selfie mit Mona Lisa. Nicht der geistige Inhalt des Artefakts ist interessant, sondern der Wiedererkennungswert. Sieht man von diesen Highlights ab, sind die Erwartungen der jeweiligen Länder bzgl. des Willens der Touristen, sich mit der Kultur dieser Länder auseinanderzusetzen realistischerweise niedrig. Schaut man sich die Werbematerialien der verschiedenen Akteure in den jeweiligen Ländern an, privat oder staatlich, könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese davon ausgehen, dass in Deutschland gehungert wird. Egal ob Peru, Mexiko, Dubai, Thailand etc.. besonders umworben wird das reichhaltige Angebot an Gerichten, das aber wiederum in allen Ressorts dieser Welt das gleiche ist, weil sich diese wiederum auf ihre Kundschaft einstellen. Bekanntlich hat Adorno die Problematik mal in einem kurzen Satz zusammengefasst: Die Leute fahren mit dem schnelleren Auto dahin, wo sie ohnehin schon sind. Die Fundamentalkritik Adornos muss man nicht teilen, wenn aber Leute einen Großteil ihrer Lebenszeit damit verbringen, Kreuzfahrtschiffe zu bauen, mit denen andere sinnfrei über die Weltmeere schippern, um Mal ein Beispiel zu nennen, wenn also zunehmend sinnfreie Produkte und Dienstleistungen produziert und erbracht werden, die lustlos konsumiert werden nur damit Arbeitsplätze erhalten werden, dann läuft die Maschine im Leerlauf. Von den anderen Problemen, wie etwa den Umweltbelastungen, mal ganz abgesehen. Wenn der Spiele Markt mehr Umsatz generiert, als der Buchhandel, dann ist für viele Leute die Realität nicht mehr interessant, denn im ersteren ist die Realität gar nicht mehr vorhanden.

Erfahrungsfähigkeit wäre sicher für die Geisteswissenschaften ein sinnvolles Ziel, fraglich ist nur, ob man hier den Bock nicht zum Gärtner macht. Die Beliebigkeit bringt vielleicht etwas Neues in die Welt, aber nichts Relevantes. Ob gar nichts Neues in die Welt kommt, wie bei Computerspielen, ob wir eine Flucht vor der Realität haben, wie bei der Unterhaltungsindustrie, oder ob Irrelevantes in die Welt kommt, läuft so ziemlich auf das gleiche hinaus.

Die spontane Rezeption eines geistigen Artefaktes gelingt nur, wenn der „Stimmung“ des Artefaktes irgendetwas entspricht, wobei das Wort Stimmung, den Sachverhalt noch am besten beschreibt. Wenn Bruce Springsteen mit Born in the USA im Konzert 1988 begeistert, dann kann das nicht daran liegen, dass die DDR Bürger in den USA geboren wurden. Entscheidend dürfte wohl eher gewesen sein, dass die DDR Bürger von der Alt-Herren-Riege ziemlich die Faxen dicke hatten. Das gleiche Moment haben wir in der BRD und weltweit in den sechziger Jahren. Wenn 2009 anlässlich der Inauguration Obamas vor dem Lincoln Memorial Pete Seeger mit This land is your land, this land is my land 400 000 Leute begeistert, dann liegt das weniger am Text, die Verstaatlichung des Landes war nie geplant, als an der Tatsache, dass die Hoffnung bestand, dass mit unsäglichen Traditionen gebrochen wird. Ähnliche Wellen habe wir in Portugual mit Grandola Vila Morena oder in Spanien mit Rosas en el Mar. Hier haben wir eine spontane Reaktion.

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