Um zu wissen, was passiert, wenn der Geist abwesend ist, müsste man erst mal wissen, was der Geist ist. Da wir das aber nicht wissen, ist die Ausgangslage definitiv sehr schlecht.
Fragen könnte man sich, was das Gegenteil von Geist ist, das ist aber nicht der Ungeist, wie bereits eingangs erwähnt, obwohl das morphologisch nahe läge. Der Geist ist etwas, das im Verborgenen schaltet und waltet und im Idealfall von der Vernunft beherrscht und im Zaume gehalten wird. Vernunft stellt auf Beherrschung ab, während der Geist etwas die Tendenz hat, die Leute aus dem Leben hinauszutreiben. Mephistopheles erkennt völlig klar, dass es die vom Geist generierten Blend- und Zauberwerke, die obskuren und weniger obskuren Leidenschaften, die Hingabe und die Disziplinlosigkeit sind, durch die er Faust zu fassen bekommt.
Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken
So hab’ ich dich schon unbedingt –
Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,
Der ungebändigt immer vorwärts dringt,
Und dessen übereiltes Streben
Der Erde Freuden überspringt.
Vernunft stellt auf eine Zweck Mittel Relation ab. Vernünftig ist ein Verhalten dann, wenn es geeignet ist, ein gegebenes Ziel zu erreichen. Der Sprachgebrauch ist hier ziemlich eindeutig. Die Aufforderung an jemanden vernünftig zu sein, bedeutet immer, dass er sich beherrschen soll, diszpliniert handeln soll, weil andernfalls ein gegebenes Ziel nicht erreicht werden kann. Das hilft uns allerdings nicht weiter, weil das Ziel gesetzt sein muss. Der Begriff Vernunft ist im Sprachgebrauch immer positiv konnotiert, wofür es aus rein logischer Sicht keinen Anlass gibt. Ist das Ziel eine Phantasmagorie hervorgebracht durch irre Wahnvorstellungen, dann wird die Vernunft unvernünftig. In der Rundfunkansprache Hitlers zum Attentat vom 20. Juli 1944 finden wir diesen Satz: Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. Der neutrale Beobachter würde sagen, dass die Auslöschung Hitlers und der deutschen Wehrmachtsführung ausgeprochen vernünftig gewesen wäre. Die Vernunft agiert innerhalb dessen, was der Geist hervorbringt und das kann eben ziemlich unvernünftig sein. Auf jeden Fall ist die Vernunft eine ziemlich langweilige Angelegenheit. Vernunft ist Selbstbeherrschung, Disziplin, Verzicht. Das macht natürlich überhaupt keinen Spaß, bzw. nur dann, wenn man irgendwann die Früchte des Bemühens ernten kann.
Der Begriff Vernunft stellt auf die Akzeptanz von Sachzusammenhängen ab, an die man sich gegebenenfalls anpasst, bzw. in seinem Verhalten berücksichtigt. Unvernünftig handelt, wer Tatsachen und Kausalzusammenhänge bewusst ignoriert. Die Vernunft hat also immer instrumentellen Charakter, der philosophische Begriff der Frankfurter Schule, die instrumentelle Vernunft, ist an sich ein Pleonasmus, so was wie ein schwarzer Rabe. Sinn würde der Begriff nur machen, wenn Vernunft alleine, also ohne instrumentell, notwendig positiv konnotiert wäre, was sie im alltäglichen Sprachgebrauch zwar ist, aber nicht in der Realität, weil die Vernunft alleine keine sinnvollen Ziele setzen kann. Ziele setzt nur der Geist und der kann ziemlich irrlichtern. Der Fun Charakter der Vernunft liegt nahe bei Null, sie ist das Gegenteil des Rausches, der Spontanität, der Bewusstseinserweiterung und was die Menschheit sonst noch alles ersehnt.
Vom Geist wissen wir nur, dass ein Bedürfnis danach besteht, welches aber weit geringer ist, als die Nachfrage, also das mit Zahlungswilligkeit und Zahlungsfähigkeit ausgestattete Bedürfnis. Da die Menschheit nun schon seit der Steinzeit geistige Artefakte hervorbringt und die Produktion, wie auch das Bedürfnis danach auf unterschiedlichen Niveaustufen, derselben quasi exponentiell zunimmt, kann man immerhin sagen, dass der Geist existiert, auch wenn unklar ist, was er eigentlich ist. So richtig kann man den Geist auch nicht von der Unterhaltung trennen, wie wir schon in Goethes Faust nachlesen können.
Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt
Und nach und nach wird man verflochten;
Es wächst das Glück, dann wird es angefochten
Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,
Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman
Das Publikum sucht also den Geist gar nicht systematisch, sondern landet da eher zufällig. Das geht dann aber noch kurioser weiter.
Dann sammelt sich der Jugend schönste Blüte
Vor eurem Spiel und lauscht der Offenbarung,
Dann sauget jedes zärtliche Gemüte
Aus eurem Werk sich melanchol’sche Nahrung,
Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt
Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.
Ist das Publikum da erst mal zufällig gelandet, dann erwartet es die Offenbarung und es besteht ein Bedürfnis nach melancholischer Nahrung. Die Herangehensweise des Publikums ist nicht objektiv, sondern jeder sieht, was er im Herzen trägt. Was da konkret stattfindet, ist allerdings völlig schleierhaft. Das Herz ist eine Metapher für das Spannungsfeld zwischen Subjekt und Objekt. Wahrscheinlich bewegt und begeistert es die Leute, wenn ein Werk dieses Spannungsfeld uminterpretiert, in einen größeren Zusammenhang stellt, dieses Spannungsfeld überhaupt erst bewusst wird, es eine Handlungsalternative zeigt, wie mit diesem Spannungsfeld umgegangen werden kann. Feststellen kann man nur, dass der Autor eines der größten Werke der Weltliteratur das ziemlich subjektiv, ohne verbale Rückversicherung, und trotzdem treffsicher hingeknallt hat. Das Teil ist geladen mit Erfahrung. Liegt diese nicht vor, dann dreht die Sprache im Leerlauf.