Wir vermuten mal, dass Faust Altgriechisch und Hebräisch konnte, also das „Heilige Original“ auch im Original lesen konnte. Das hat ihm allerdings auch nicht geholfen, denn genau wie wir fragt er sich, ob die Übersetzung korrekt ist und was mit Wort eigentlich gemeint ist. (Wobei das natürlich reine Fiktion ist. Das Teil hat ja schon Luthers, Martin 250 Jahre vorher übersetzt. Also genau genommen hat der Spiritus Rector, also Goethe höchstselbst, Zweifel, ob die Übersetzung einen Sinn ergibt.)

Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.
Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹
Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh‘ ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Das können wir dann zusammenfassen. Wort könnte auch Sinn bedeuten, aber der Sinn der Schöpfung ist erstmal nicht erkennbar. Kraft allerdings bedeutet Wort nie, obwohl Wörter, sogar vollkommen sinnfreie, eine enorme Kraft entfalten können. Also mit Wörtern kann man Massen kitzeln, das generiert dann unter Umständen gewaltige Energien. Faust betreibt da wohl etwas brainstorming. Die Kraft allerdings wäre ein Kontinuum, etwas, was kontinuierlich wirkt, wenn auch sinnfrei. Schlussendlich schrumpft das dann zur Tat. Das ist so gut wie nichts. Weder Sinn, noch Kraft. Also im Grunde nichts. Bettet man diesen Abschnitt in das Gesamtwerk, dann bedeutet dies, dass die Sinngebung nicht von außen, etwa von Gott kommen kann, sondern vom Menschen selber erschaffen werden muss. Gott hat ja, wie wir im Prolog im Himmels sehen, selber keinen Plan, weswegen Faust, der durch seine unersättliche Unruhe die Möglichkeiten austestet, sein Knecht ist. Die Grundthese des Dramas ist dann, dass die Schöpfung zwar sinn- und kraftlos war, aber da sie nun mal da ist, sich beharrlich dagegen wehrt, wieder im nichts zu verschwinden, was ja wiederum das Missfallen von Mephistopheles erregt:

Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;

Beziehungsweise sich endgültig in nichts auflöst. Was sein alltägliches Handeln im Alltag angeht, ist Mephistopheles ja eigentlich ein sympathischer Zeitgenosse, mit einer guten Portion Mutterwitz und Realismus. An einer Stelle liegt er aber falsch. Wenn auf der Erde das Licht ausgeht, verliert er als Repräsentant der Finsternis auch seinen Sinn.

Aber der große philosophische Bogen ist gar nicht unser Thema im Moment, unser Thema ist die Sprache und an der lässt Goethe, wir dürfen stark annehmen, dass seine persönlichen Erfahrungen mit der Sprache in das Werk eingeflossen sind, kein gutes Haar.

(Wer will, kann es weiter denken. Im Grunde gibt es im Faust keine Institution, außer eben dem Menschen selbst, die sinnstiftend wirken könnte.)

Im Jahr der Geisteswissenschaften unter der Ägide der harmlosen Annette Schavan sah man die Dinge gelassener. Auf der Website können wir lesen:

Sprache – die thematische Klammer des Wissenschaftsjahr 2007
Das Wissenschaftsjahr 2007 steht unter dem Motto „Die Geisteswissenschaften. ABC der Menschheit“.
Das Motto beschreibt zugleich das Thema des Wissenschaftsjahres: die Sprache.

aus:<A href://https://www.wissenschaftsjahr.de/2007/coremedia/generator/wj/de/03__Geisteswissenschaften/Geisteswissenschaften.html>Wissenschaftsjahr 2007</A><br>

Da fühlen wir uns doch gleich ins Zeitalter des Evangelium des Johannes zurückversetzt: Am Anfang war das Wort. Thema der Geisteswissenschaften ist also die Sprache und nicht etwa das, was die Sprache hervorbringt. Vom Subjekt wird also weitgehend abstrahiert und nur das betrachtet, was sinnlich erfahrbar vorliegt. Der Unterschied zwischen der Begutachtung dessen, was sinnlich erfahrbar vorliegt und dem, was es hervorgebracht hat, ist in etwa der gleiche wie der zwischen Botanik und Molekularbiologie, allerdings mit einem Unterschied. Die Bestimmung und Katalogisierung der Pflanzen machen Biologiestudenten im ersten Semester zwei / drei Wochen und dann ist das Thema erledigt. Schwerpunkt des Studiums sind dann eher die Gensequenzen, durch die sich eine Rotbuche von einer Kerb-Buche unterscheidet. Es ist nachvollziehbar, dass sich die Menschheit zuerst mit dem beschäftigt, was unmittelbar wahrnehmbar ist, aber das, was unmittelbar wahrnehmbar ist, ist nicht notwendigerweise aufschlussreich.

Am Anfang war nie das Wort, auch nicht bei der Erlernung der Muttersprache. Das Kind ermittelt die Bedeutung aus dem Kontext, in dem ein Wort auftaucht, wobei das teilweise subtil ist. Würde man einen Deutsch Muttersprachler fragen, was der Unterschied zwischen sagen  und sprechen  ist, dann hätte die meisten damit Probleme, obwohl sie es richtig anwenden. Manchmal geht beides, er sprach zu viel oder er sagte zu viel, aber der Sinn ist nicht der gleiche. Bei „er sagte zu viel“ hat jemand wohl mehr gesagt, also günstig war, bei „er sprach zu viel“ war er lediglich besoffen. Glücklich und fröhlich sind manchmal gegeneinander subistuierbar, manchmal nicht. Ein fröhlicher Mensch wirkt ansteckend auf seine Umwelt, ein lediglich glücklicher Mensch kann still in der Ecke sitzen. Wie die Wörter der Muttersprache gelernt werden, ist alles andere als trivial, aber auf jeden Fall war die komplexe Realität schon vor den Wörtern da. Erkennen die „Geisteswissenschaftler“ auf den Primat der Sprache, dann haben die irgendwie das Problem nicht begriffen.

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