Die Sprachkritik in Goethes Faust, vorgetragen von Mephistopheles an verschiedenen Stellen, adressiert ganz unterschiedliche Probleme, die sich aber letztlich unter einen Nenner subsummieren lassen. Sprache, wie auch das stark formalisierte Denken in der Ökonomie, wird dann zum Problem, wenn Sprache den Zugang zur Komplexität der Wirklichkeit verbaut, bzw. jemand nicht in der Lage ist, diese zu erfassen und mit abstrakten Begriffen hantiert bzw. schlicht unfähig zur authentischen Erfahrung ist.

Im Faust wird Sprache praktisch ausschließlich als Problem thematisiert, als Gegenpool zur Individualität, die sich durch einen Prozess herauskristallisiert.

Denn eben wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

Der Unterschied zwischen Begriff und Wort wird nicht erläutert, offensichtlich zielt der Begriff aber auf eine konkrete Vorstellung, eine individuelle Erfahrung, die sich in Abhängigkeit vom Subjekt im Zeitablauf gebildet hat. Dem Begriff liegt also eine individuelle Erfahrung zugrunde, eine Auseinandersetzung mit der Welt. Dem Wort fehlen diese Eigenschaften. Das Wort hat lediglich eine klar umrissene Bedeutung, die auch ohne Individualisierungsprozess verstanden wird. Das deckt sich weitgehend mit dem Sprachgebrauch. „Sich einen Begriff von etwas machen“ heißt zum Beispiel, einen komplexen Vorgang mental durchdringen, sich Klarheit über etwas verschaffen. Tisch ist ein Wort, freie Marktwirtschaft ein Begriff, weil auf eine komplexe Vorstellung abgestellt wird. Die These, von Mephistopheles vorgetragen, ist, dass Worte, die also keinen Individualisierungsprozess voraussetzen, Begriffe ersetzen, wenn eben dieser Individualisierungsprozess fehlt. Die Worthülse ersetzt die konkrete Erfahrung und dies Phänomen findet man besonders häufig in den Geisteswissenschaften. Die Worthülse kann sich dann als „Begriff“ etablieren, wenn sie zum Kanon gehört, also allgemein akzeptiert wird und nicht weiter hinterfragt wird; wenn es kein Bewusstsein mehr gibt, das gegen die Worthülse opponieren könnte. Auf den Punkt wird es durch diesen Spruch: Wenn alle das gleiche denken, denkt keiner mehr.  Der obige Vers geht dann weiter.

Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
mit Worten ein System bereiten,
an Worte läßt sich trefflich glauben,
von einem Wort läßt sich kein Iota rauben.

Weitgehend übernimmt Mephistopheles hier die Position des Faust, was ja in Anbetracht der Tatsache, dass sie beide den gleichen Schöpfer haben, nämlich Goethe höchstselbst, nicht weiter verwunderlich ist. Faust bezweifelt, dass am Anfang das Wort war, denn ein Wort kann nur durch einen Prozess eine Bedeutung erhalten.

(Auch ein semantisches Feld wird durch einen komplexen Bewusstseinsprozess eröffnet, der teilweise unbewusst abläuft. Freude und Spaß stehen z.B. in Konkurrenz zueinander, sind in bestimmten Kontexten austauschbar, in anderen nicht: Das macht mir Freude. <=> Das macht mir Spaß. aber: Ich habe mit Freude gehört… <=> Ich habe mit Spaß gehört… „. Sprachwissenschaftler“ beschäftigen sich mit semantischen Feldern. Die sind aber nicht das Problem. Das Problem ist, wie sie entstehen.)

Während Faust aber noch lediglich mit der Sprache hadert, ist das Thema für Mephistopheles schon abgehakt. In dem Vers „an Worte lässt sich trefflich glauben“ werden zwei Dinge zusammengebracht, die unvereinbar sind: Wort und glauben. Glauben heißt, dass der Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht in Frage gestellt wird, auch wenn ein objektiver Beweis nicht möglich ist. An Wörter allerdings kann man gar nicht glauben, denn Wörter verweisen lediglich auf etwas. Man kann nicht an ein Auto, einen Tisch, einen Baum etc. glauben. Glauben kann man an einen Zusammenhang, der durch einen Begriff beschrieben wird. An die freie Marktwirtschaft, an eine Religion, an die Demokratie etc. kann man glauben. An den zum Wort geschrumpften Begriff, kann man eigentlich nicht glauben. Dem Begriff (!) Wort fehlt die individuelle Auseinandersetzung, die zum Begriff führt. Wenn mit Worten gestritten wird, ein System bereitet wird oder an Worte geglaubt wird, dann haben wir es mit Individuen zu tun, die keinen Individualisierungsprozess durchlaufen haben.

Bekanntlich hat sich Goethe ja standhaft geweigert, seine eigenen Werke zu interpretieren. Zu der Frage, was den Individualisierungsprozess in Gang setzt, nimmt er schlicht nicht Stellung. Nachvollziehbar ist, dass ein Individualisierungsprozess die bewusste / unbewusste Auswahl aus mehreren Alternativen zur Bedingung hat. Nur wenn der Begriff Belastungen durch Alternativen ausgesetzt ist, kann, wie John Stuart Mill in seiner Schrift On Liberty zutreffend feststellt, eine Auswahl stattfinden. Der verbeamtete Geist allerdings lebt in der Blase. Dort reicht es, wenn die Beteiligten davon ausgehen, dass der Begriff auch etwas bedeutet oder wie Mephistopheles es formuliert:

Am besten ist’s auch hier, wenn Ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.
Im ganzen – haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.

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